Angesichts dessen, dass “Wutbürger“ zum Wort des Jahres gewählt wurde, erscheint eine Streitschrift mit dem Titel “Empört euch!“ überflüssig.
Auch in Frankreich, wo der dünne Aufsatz zuerst erschien, fehlte es zuletzt nicht an Empörung. Hunderttausende demonstrierten gegen eine Rentenreform, an den Tankstellen drohte Benzin knapp zu werden, weil Raffinerien bestreikt wurden.
Gegen die Sparmaßnahmen in Griechenland wurde ein Generalstreik ausgerufen, während in England, ebenfalls wegen Sparmaßnahmen, die größten Proteste seit der Thatcher-Ära im Gange sind.
An Empörung fehlt es in Europa also nicht. Warum ruft Stéphane Hessel, 93 Jahre alt und auf der allerletzten Etappe seines Lebens, genau dazu auf?
Stéphane Hessels Streitschrift ist deshalb nicht überflüssig, weil der Wutbürger dieser Tage am Ende der Entwicklung steht. Der Bahnhof in Stuttgart, gegen den sich die Deutschen so empörten, wird wohl gebaut werden. Das Projekt ist politisch abgesegnet, die Bauaufträge sind zum Teil vergeben und das alte Bahnhofsgebäude ist zur Hälfte schon abgerissen.
Die Sparpläne in Griechenland und England sind bereits beschlossen, müssen nur noch die jeweiligen Parlamente passieren, in denen die Regierungsmehrheit vorhanden ist. Der Widerstand kommt zu spät.
Wenn Hessel die Menschen also auffordert sich zu empören, dann meint er eine grundsätzliche Empörung. Nicht der Bau eines Bahnhofes ist der Skandal, sondern der Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Planung von Großprojekten. Nicht die Sparmaßnahmen an sich sind das Problem, sondern eine Politik, nach der Sozialausgaben in erster Linie eine Haushaltsbelastung darstellen.
Stéphane Hessel fordert eine Empörung über den Kurs, den die Industrienationen eingeschlagen haben, über die immer größer werdende Kluft zwischen arm und reich, warnt vor zunehmender Gleichgültigkeit, die der natürliche Feind der Demokratie und der Verbündete von Extremismus ist.
In Deutschland geboren, aber früh Wahlfranzose geworden, hatte sich Stéphane Hessel im 2. Weltkrieg der Résistance angeschlossen. Sein Widerstand gegen den Nationalsozialismus führte ihn nacheinander in zwei Konzentrationslager, die er mit Mut und Glück überlebte.
Nach dem Krieg arbeitete er mit an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wie viele seiner Generation wollte er, dass die Menschheit nach dem 2. Weltkrieg eine andere sein sollte als zuvor, friedlicher, gerechter, brüderlicher. Für Stéphane Hessel sind das die Ideale der Résistance. Dass diese Ideale noch immer nicht verwirklicht sind, entmutigt ihn nicht.
Die Erklärung der Menschenrechte zeigt Wirkung, langsam aber unaufhaltsam. Die Welt hat sich verändert seit 1945. Die Apartheid ist überwunden, die Kolonialreiche sind verschwunden, der Rassismus ist im Niedergang begriffen und der Schutz der Natur ist ein allgemeines Anliegen.
All diese Veränderungen haben ihren Ursprung darin, dass Menschen sich empört haben.
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